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Von Pumphosen, Winkelgassen und Klinkerikonen: Hamburg in der frühen Fotografie

Sankt Pauli um 1910: Zwei Damen in Pumphosen üben Handstand – und denken dabei nur an eines: Franzbrötchen! Dieses Motiv ist eines meiner Lieblingsfotos, entdeckt auf einer unermüdlichen Suche nach historischem Bildmaterial und perfekt für die neue Abo-Postkarte. Außerdem Anlass genug, Euch hier die großartigen Arbeiten Hamburger Fotografinnen und Fotografen vorzustellen, die diese Stadt zeigen, wie man sie nicht mehr kennt …

Georg Koopmann und die alten Gassen am Fleet

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Kaum jemand prägt mein Bild vom alten Hamburg wie der Fotograf Georg Koppmann (1842-1909). Ohne ihn könnte man sich noch viel weniger vorstellen, wie Hamburg vor dem ersten Weltkrieg gewesen sein muss. Koppmanns Bilder beweisen, dass diese Stadt einmal vollkommen anders ausgesehen hat. Diese windschiefen Fachwerk-Häuser und verwinkelten Gassen, diese trüben, verwunschenen Fleete… aus dem heutigen Stadtbild sind sie weitestgehend verschwunden. Häufig entdeckt man auf Koppmanns Bildern Männer mit Zylindern und Frauen in bauschigen Röcken. Manchmal wirken sie geisterhaft unscharf, weil sie sich offenbar während der langen Belichtungszeiten bewegt haben.

Auch die hier gezeigten Orte sehen heute völlig anders aus. Anstelle des Mührenfleets (Bild 1) fließt heute der Zollkanal. Die Häuser fielen allerdings nicht den Bomben zum Opfer, sondern mussten der Speicherstadt weichen, die ab 1883 auf den Elbinseln und den Wohnquartieren Kehrwieder und Wandrahm als Teil des Hamburger Freihafens  erbaut wurde.

Fotos: Museum für Kunst und Gewerbe / Public Domain

Die Gebrüder Dransfeld und der Backstein

Hamburgs Klinker-Ikone: Das Chilehaus, erbaut 1922-24. Wer hätte gedacht, dass die Entwürfe des Architekten Fritz Höger zunächst nicht gefielen? Der Bauherr, Henry Barens Sloman, ein Kaufmann, der es mit dem Handel von chilenischem Salpeter zu Reichtum gebracht hatte, befürchtete Tristesse. Die Spitze des Gebäudes, einem Schiffsbug nachempfunden, erschien ihm zudem zu „neumodisch“. Nach eigener Aussage reichte Höger insgesamt 17 Änderungsanträge bei der Stadt ein, um die elegant geschwungene Südfassade doch noch realisieren zu können. Bereits kurz vor der Übergabe an den Bauherrn ließ Höger das Chilehaus  fotografieren. Die obigen Aufnahmen stammen von Högers „Hausfotografen“ Carl und Adolf Dransfeld: Im März 1924 inszenierten die Brüder mithilfe eines Weitwinkelobjektivs die Ostspitze des Gebäudes und machten das Chilehaus zum bekanntesten deutschen Architekturmotiv der 1920er Jahre.

Carl und Adolf Dransfeld waren 1904 aus Berlin nach Hamburg gekommen und etablierten sich hier als führende Architekturfotografen der 1920er Jahre. Jeder namhafte Architekt, allen voran die „Backsteinexpressionisten“ ließen ihre Bauten stolz von den Dransfelds ablichten. Bild 3 und 4 zeigen Aufnahmen des Sprinkenhofs im heutigen Kontorhausviertel.

Fotos: Wikipedia / Creative Commons

Paul Wutke und die Menschen der Hinterhöfe

Die Streifzüge, die Paul Wutcke mit seiner Kamera um das Jahr 1900 durch die Hamburger Hinterhöfe unternahm, waren wohl eher ein Hobby. Der 1872 geborene Sohn eines Uhrmachers wohnte unweit eines der Hamburger Gängeviertel in der ABC-Straße und verdiente sein Geld eigentlich als Masseur. 1905 erbte er zudem das Korsettgeschäft seiner Mutter. Größere Geldsorgen dürfte der Amateurfotograf nicht gehabt haben – eine Kamera-Ausrüstung lag offenbar im Budget. Ich frage mich, ob er die Menschen in den damals berüchtigten Gängen, den angeblich größten Slums Europas, gezielt aufforderte, sich von ihm fotografieren zu lassen – oder ob es sich solche Massenaufläufe mit einer auffälligen Stativ-Kamera gar nicht verhindern ließen?

Die Männer, Frauen und Kinder auf seinen Bildern wirken herausgeputzt, so als hätten sie sich für den Fotografen noch mal extra schick gemacht. Dabei gehörten sie zu den Ärmsten der Armen, feine, saubere Kleider waren sicher keine alltägliche Selbstverständlichkeit. Der hier gezeigte Große Bäckergang war Teil der Hamburger Neustadt und damals Mittelpunkt jüdischen Lebens.

Fotos aus: „Rund um die Gängeviertel“, Edition Photothek, 1986 Dirk Nishen Verlag, Berlin 

Minya Diez-Dührkoop und die Damenwelt

Julie Wilhelmine Dührkoop, „Minya“ genannt, ist 17 Jahre alt, als ihr Vater, der renommierte Hamburger Porträtfotograf Rudolf Dührkoop, sie 1890 zur Fotografin ausbildet. Julie hingegen macht sich als eine der wenigen Frauen in einem von Männern dominierten Metier einen Namen, der bis in die Nachwelt hallen sollte. 1894 heiratet sie den aus Malaga stammenden Fotografen Luis Dièz. Doch die Ehe wird 1901 geschieden. Minya behält Dièz als Nachnamen bei. Nach oder während der Scheidung gründet sie ihr eigenes Fotoatelier.

Ursula und Gertrud Falke

Interessanterweise reist sie ab 1900 mehrere Jahre lang durch die Welt – vielleicht war auch dieses Vorhaben einer der Gründe für die Scheidung? Sie spezialisiert sich auf das Porträt. Am faszinierendsten finde ich ihre seidig wirkenden Fotografien der Damenwelt.

Die Malerin und Bildhauerin Elena Luksch-Makowsky

Minya Diéz-Dührkoop hatte sich zum Ziel gemacht „statt Pose und Retouche“ natürlich zu fotografieren und das individuelle Wesen der Porträtierten einzufangen – damals ein sehr neuer Ansatz. 1910 wurde sie passives Mitglied der expressionistischen Künstlergemeinschaft „Brücke“. 1906/07 macht ihr Vater sie zur Teilhaberin seiner Filiale in Berlin. Am 26. November 1929 starb sie in Hamburg. Eine echte Pionierin auf ihrem Feld, über die man heute leider viel zu wenig weiß!

Unbekannte Frau

Fotos: Museum für Kunst und Gewerbe / Public Doman

Carl Ferdinand Stelzner und die lieben Kleinen

Alfred und Bruno (Bild 1), die Schwestern Claudina und Friederike (Bild 2), ein unbekanntes Kind mit gestreiftem Schal: Diese Hamburger Jungs und Deerns müssen eine Ewigkeit still halten, als der Hamburger Fotograf Carl Ferdinand Stelzner (1805–1894) sie zur Mitte des 19. Jahrhunderts  in seinem Atelier am Jungfernstieg ablichtet – auf versilberten Kupferplatten, die man mit Silberiodid beschichtet und in einer Lochkamera belichtet. Die Daguereotypien, wie sich die aufwändigen Plattenbilder nennen, wurden zwischen 1837 und 1839 erfunden und gelten  als eines der ältesten photographischen Verfahren der Welt. Belichtungszeiten von zehn Minuten waren keine Seltenheit. Womöglich bekamen die hier gezeigten Kinder fürs Stillsitzen und „Liebgucken“ ein Franzbrötchen.

Carl Ferdinand Stelzner begann – wie viele Daguerreotypisten seiner Zeit – ab 1854 infolge des Umgangs mit Quecksilberdämpfen während des Entwicklens seiner Fotos zu erblinden. Mit dieser Blindheit hat er dann immerhin noch 40 Jahre lang gelebt.

Fotos: Museum für Kunst und Gewerbe (Public Domain)

Heinrich Hamann und die Pumphosen von St. Pauli

Kommen wir schließlich zum Turnverein von St. Pauli, dessen Mitglieder schon im frühen 19. Jahrhundert auf dem Heiligengeistfeld ihren Bizeps stählen und Kopfstand üben. Die 1816 gegründete Hamburger Turnerschaft soll sogar der erste Sportverein der Weltgeschichte sein. Auch der junge Hamburger Fotograf Heinrich Hamann (1888-1975) begeistert sich für das Turnen – und lichtet seine Mitstreiter mit der Kamera ab. Auch Fotografien von weiblichen Vereinsmitgliedern finden sich unter seinem Nachlass. Dabei war das Turnen für Frauen und Mädchen langezeit verpönt. Erst ab 1919 durften sie offiziell  in Turnvereinen aufgenommen werden. Der Turnrat des HT 1816 schrieb Mädchen zunächst blauweiß gestreifte Blusen aus Kadettstoff, marineblaue Röcke, lange, schwarze Strümpfe und braune Segeltuchschuhe vor:

 Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts rebellieren die Sportlerinnen gegen den Rock und setzen dank der Pionierleistung der Radsportlerinnen auch für das Turnen die skandalöse Pumphose durch. Mit ihr durfte nun auch das weibliche Geschlecht endlich Kopfstehen, ohne dass der Schlüpper zum Vorschein kam:



EIN TIPP  IN EIGENER SACHE

Falls Ihr historische Fotografie und Anekdoten aus der Vergangenheit Hamburgs auch so spannend findet wie ich, schaut gern mal auf meiner neuen „Instagram-Zweigstelle“ @elbvilles_timetravels vorbei!


So, das war’s für diesen Monat! Die neue Postkarte könnt Ihr euch wie immer hier herunter laden:

Bis bald, und genießt den Juli! Anfang August kommt die nächste Karte!

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